Rechtsdienst kompakt
In folgenden Kompaktbeiträgen aus dem Rechtsdienst stellen wir interessante Rechtsprechungen und Neuerungen aus der Gesetzgebung in aller Kürze für Sie dar – verständlich und mit hoher Aktualität.

Hinweis: Der folgende Kompaktbeitrag wurde im Rechtsdienst der Lebenshilfe abgedruckt und erstveröffentlicht. Hier können Sie sich über die aktuelle Ausgabe des Rechtsdienstes informieren.
Rechtsdienst der Lebenshilfe 1/2023
Im Streit stand die Weiterbewilligung von Leistungen der Eingliederungshilfe in Form des ambulant betreuten Wohnens. Im Rahmen der Bedarfsermittlung erklärte der psychisch beeinträchtigte Kläger, es gebe nichts, was er nicht gut oder gar nicht könne. Gleichwohl wünsche er weiterhin Leistungen des ambulant betreuten Wohnens.
Daraufhin wurden die Leistungen eingestellt. Der beklagte Eingliederungshilfeträger begründete dies damit, dass mit Leistungen der Eingliederungshilfe nur diejenigen Leistungsberechtigten unterstützt würden, die „Interesse an ihrer Verselbstständigung“ hätten. Eine Fortsetzung der Leistungen sei daher erst möglich, wenn der Kläger seine Defizite erkennen und an ihnen arbeiten wolle.
Die hiergegen gerichtete Klage hatte Erfolg. Nach Auffassung des SG Reutlingen (Gerichtsbescheid vom 29.07.2022 – Az: S 5 SO 2374/21) besteht weiterhin ein Anspruch auf Leistungen der Eingliederungshilfe. Der Beklagte verkenne, dass der Paradigmenwechsel im Recht der Eingliederungshilfe dem Leistungsberechtigten zwar mehr Mitsprachemöglichkeiten einräume, dies aber nicht bedeute, dass im Rahmen der Bedarfsermittlung keine anderen Informationsquellen als die Angaben des Leistungsberechtigten einbezogen werden müssten. Die Auffassung des Beklagten würde sonst dazu führen, dass Leistungsberechtigten, die ihre Bedürfnisse und Wünsche nicht adäquat formulieren könnten, der bestehende Hilfebedarf abgesprochen würde. (Ax)
(Rechtsdienst der Lebenshilfe: Ausgabe 1/23, S. 46)
Der nach dem SGB II Leistungsberechtigte (L.) wollte gegen einen Bescheid des Jobcenters Widerspruch einlegen und beantragte für die Unterstützung bei der Widerspruchsbegründung Beratungshilfe. Das Amtsgericht lehnte den Antrag ab, die Erinnerung (Rechtsbehelf gegen abgelehnte Beratungshilfe) blieb erfolglos. Das Beratungshilfegesetz schließe die Bewilligung von Beratungshilfe wegen der mutwilligen Rechtsverfolgung durch L. aus.
Daraufhin rügte L. mit seiner Verfassungsbeschwerde eine Verletzung der Rechtswahrnehmungsgleichheit (Art. 3 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 1 und 3 GG). Das BVerfG gab der Beschwerde statt (Beschluss vom 04.04.2022 – Az: 1 BvR 1370/21). Das GG gebiete bei der Durchsetzung von Rechten eine Gleichstellung von Unbemittelten mit solchen bemittelten Menschen, die aufgrund ihrer finanziellen Möglichkeiten entscheiden können, sich anwaltlich beraten zu lassen und hierfür auch die entstehenden Kosten abwägen. Zu prüfen sei auch, ob der zugrunde liegende Sachverhalt schwierige Tatsachen- oder Rechtsfragen aufwerfe und ob der Rechtssuchende über eigene Rechtskenntnisse verfüge.
Vorliegend fehlte es L. an Rechtskenntnissen. Zudem warf der Sachverhalt – Anrechnung von Betriebskostenguthaben auf die SGB II-Leistung – schwierige Fragen auf. Zur Klärung durfte L. nicht an das Jobcenter verwiesen werden, denn dieses hatte den Bescheid erlassen. Da L. konkrete Gründe genannt hatte, die für eine Rechtswidrigkeit des Bescheids sprachen, handelte es sich auch nicht um eine mutwillige Rechtsverfolgung, so das BVerfG. Im Ergebnis war daher Beratungshilfe zu gewähren. (Sel)
(Rechtsdienst der Lebenshilfe: Ausgabe 1/23, S. 46f.)
Rechtsdienst der Lebenshilfe 4/2022
Die unter Betreuung stehende Klägerin hatte 2016 u. a. Wahn- und Halluzinationsvorstellungen. In diesem Zustand entsorgte sie die „verfluchte“ Einrichtung ihrer Wohnung. Als es ihr nach einem stationären Aufenthalt wieder besser ging, beantragte sie einen Zuschuss für eine Erstausstattung. Dies lehnte der beklagte Träger der Sozialhilfe ab, da die Klägerin einen Ergänzungsbedarf geltend mache, der aus dem Regelbedarf anzusparen sei.
Daraufhin erwarb der Sohn der Klägerin Einrichtungsgegenstände und gewährte ihr ein Darlehen i. H. d. Kaufpreises (1.800 Euro).
Das SG Freiburg (Urteil vom 23.07.2018 – Az: S 7 SO 1522/18) und das LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 09.07.2020 – Az: L 7 SO 3313/18; RdLh 1/2021, S. 27 f.) verurteilten den Beklagten, Kosten i. H. v. 771 Euro zu erstatten. Hinsichtlich der begehrten weiteren Kostenübernahme sei die Klage abzuweisen.
Dem folgte das BSG (Urteil vom 16.02.2022 – Az: B 8 SO 14/20 R): Der Klägerin stehe ein Anspruch gem. § 31 Abs. 1 Nr. 1 SGB XII zu, da außergewöhnliche Umstände durch einen von außen wirkenden Umstand (hier die psychische Krise der Klägerin), ein spezieller Bedarf sowie der nötige Kausalzusammenhang zwischen beidem gegeben seien. Ein bloßer Verschleiß, für den eine Erstausstattung nicht in Betracht komme, liege dagegen nicht vor.
Die Höhe der Kostenübernahme sei nicht zu beanstanden, da eine Pauschale zugrunde gelegt werden durfte, vgl. § 31 Abs. 3 SGB XII. (Sel)
(Rechtsdienst der Lebenshilfe: Ausgabe 4/22, S. 200)
Der 1991 geborene, zu 100 % schwerbehinderte und nahezu taubblinde Beklagte lebt auf der Grundlage eines Wohn- und Betreuungsvertrages (WBVG-Vertrag) seit 2010 in der von der Klägerin betriebenen Wohnform für Menschen mit Behinderung. Seit 2019 kam es fast täglich zu aggressiven Verhaltensauffälligkeiten des Beklagten (u. a. Schlagen, Beißen) gegenüber Mitbewohnern, Personal und Sachen. Daraufhin kündigte die Klägerin den WBVG-Vertrag und verlangte die Räumung und Herausgabe des Wohnraums.
Kündigung nur aus wichtigem Grund und bei Unzumutbarkeit
Das LG Rottweil wies die Klage mangels wirksamer Kündigung ab (Urteil vom 08.04.2022 – Az: 2 O 435/21). Grundsätzlich könnten WBVG-Verträge nur aus wichtigem Grund gekündigt werden, und das auch nur, sofern die Fortsetzung des Vertragsverhältnisses unzumutbar sei, vgl. § 12 Abs. 1 Wohn- und Betreuungsvertragsgesetz (WBVG; vgl. OLG Oldenburg, Urteil vom 28.05.2020 – Az: 1 U 156/19 und LG Berlin, Urteil vom 06.05.2020 – Az: 65 S 264/19; dazu RdLh 4/2020, S. 199 f.).
Vorliegend spreche gegen die Unzumutbarkeit vor allem, dass der Klägerin schon bei Vertragsabschluss fremdaggressive Verhaltensauffälligkeiten des Beklagten in den Grundzügen bekannt gewesen seien. Deshalb habe die Klägerin ihre Leistungen an das Verhalten des Beklagten anzupassen. Mangels „gesonderter Vereinbarung“ mit dem Beklagten sei diese Pflicht zur Anpassung auch nicht wirksam ausgeschlossen worden, vgl. § 8 Abs. 4 WBVG. (Sel)
(Rechtsdienst der Lebenshilfe: Ausgabe 4/22, S. 201)
Rechtsdienst der Lebenshilfe 3/2022
In dem Rechtsstreit verlangte das klagende Pflegeheim (SGB XI) von der Beklagten rückständige Heimkosten und die Räumung des Zimmers, in dem der Sohn der Beklagten lebt. Seit März 2020 hielt sich dieser aus Sorge vor einer Ansteckung mit dem Corona-Virus monatelang nicht mehr in der Einrichtung auf, ohne jedoch den Schlüssel zurückzugeben bzw. das Zimmer zu räumen. Die Beklagte zahlte in dieser Zeit lediglich ein reduziertes Entgelt; der Kläger kündigte letztlich den WBVG-Vertrag und verlangte Räumung.
Das LG Amberg verurteilte die Beklagte unter Berücksichtigung ersparter Aufwendungen zur Zahlung und Räumung (Urteil vom 30.03.2021 – Az: 12 O 725/20). Die Berufung verwarf das OLG Nürnberg als unzulässig (Beschluss vom 11.10.2021 – Az: 4 U 1292/21).
Um gegen den OLG-Beschluss Nichtzulassungsbeschwerde einlegen zu können, beantragte die Beklagte die Beiordnung eines Notanwalts gem. § 78b Abs. 1 Zivilprozessordnung.
Der BGH lehnte den Antrag ab, da die Rechtsverfolgung aussichtslos sei (Beschluss vom 28.04.2022 – Az: III ZR 240/21). Denn trotz der Beschränkungen habe der Kläger die zentralen (Pflege-)Leistungen weiter erbracht. Entgegen der Auffassung der Beklagten habe das Entgelt deshalb nicht gem. § 10 WBVG gekürzt werden dürfen. Mangels schwerwiegender Störung der Geschäftsgrundlage sei eine reduzierte Zahlung des Entgelts auch nicht nach § 313 Bürgerliches Gesetzbuch gerechtfertigt. Vor diesem Hintergrund sei die Kündigung wirksam und müsse das Zimmer an den Kläger herausgegeben werden.
Hinweis: Die gleiche Rechtslage dürfte für das Wohnen in besonderen Wohnformen gelten. (Sel)
(Rechtsdienst der Lebenshilfe: Ausgabe 3/22, S. 151)
Der Kläger arbeitet in einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM). Er hat wegen anderweitigen Einkommens keinen Anspruch auf Leistungen der Grundsicherung, weshalb ihm der Mehrbedarf für das Mittagessen in der WfbM nach § 42b Abs. 2 SGB XII nicht zusteht.
Daher beantragte er die Übernahme der ihm für das Mittagessen entstehenden Kosten als Leistung der Eingliederungshilfe. Dies lehnte der Eingliederungshilfeträger ab. Die hiergegen erhobene Klage hatte vor dem SG Heilbronn und dem LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 17.03.2022 – Az: L 7 SO 4143/20) keinen Erfolg (vgl. hierzu die Besprechung der Parallelentscheidung des SG Heilbronn, Urteil vom 14.12.2021 – Az: S 2 SO 1228/20, RdLh 2/2022, S. 80 f.).
Das LSG führte aus, das Mittagessen in der WfbM sei seit der BTHG-Reform kein Bestandteil der Eingliederungshilfeleistung, soweit die Kosten des Mittagessens die Höhe des Mehrbedarfs nach § 42b Abs. 2 S. 3 SGB XII nicht überstiegen. Nur soweit die Kosten für die Herstellung und Bereitstellung hierdurch nicht gedeckt werden könnten, seien sie der Eingliederungshilfe zuzuordnen (§ 113 Abs. 4 SGB IX). Das Mittagessen werde daher aus zwei Quellen finanziert, wobei der Anspruch nach § 42b SGB XII als Spezialregelung vorgehe. Da die von der WfbM für das Mittagessen in Rechnung gestellten Kosten vorliegend die Höhe des Mehrbedarfs nicht überschritten, komme ein Rückgriff auf § 113 Abs. 4 SGB IX nicht in Betracht. Ein Verstoß gegen Art. 3 GG sei darin nicht zu sehen.
Gegen die Entscheidung ist Revision beim BSG anhängig (Az: B 8 SO 5/22 R). (Ax)
(Rechtsdienst der Lebenshilfe: Ausgabe 3/22, S. 149)
Rechtsdienst der Lebenshilfe 2/2022
Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hatte darüber zu entscheiden, ob die Nichtberücksichtigung einer Bewerberin bei der Besetzung einer Stelle zu einem Anspruch auf Entschädigung nach § 15 AGG führt. Eine zur Zeit des Bewerbungsverfahrens ca. 50jährige Frau hatte sich auf eine Stellenausschreibung bei einem Assistenzdienst (Beklagte) beworben, der Assistenz für Menschen mit Behinderung in verschiedenen Lebensbereichen (z. B. für Leistungen der Eingliederungshilfe nach § 78 SGB IX) anbietet.
BAG ruft EuGH an
In der Stellenausschreibung wurde für eine 28jährige Studentin eine weibliche Assistenz „am besten zwischen 18 und 30 Jahre alt“ gesucht. Die Klägerin hat die Auffassung vertreten, sie sei im Bewerbungsverfahren wegen ihres Alters benachteiligt worden. Nach Ansicht der Beklagten ist das Wunsch- und Wahlrecht der Leistungsberechtigten nach § 8 Abs. 1 SGB IX zu berücksichtigen. Das Arbeitsgericht hat der Klage teilweise stattgegeben, das Landesarbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das BAG hat vor seiner Entscheidung den Europäischen Gerichtshof (EuGH) um eine Vorabentscheidung ersucht und das Verfahren so lange ausgesetzt (Beschluss vom 24.02.2022 – Az: 8 AZR 208/21 (A).
Die Entscheidung hänge von der Frage ab, ob unionsrechtliche Vorschriften (Art. 2, 4, 6 und 7) der Gleichbehandlungs-Rahmenrichtlinie (2000/78/EG) im Licht der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und von Art 19 UN-Behindertenrechtskonvention dahin ausgelegt werden können, dass hier eine unmittelbare Benachteiligung wegen des Alters gerechtfertigt werden könne. (Sch)
(Rechtsdienst der Lebenshilfe: Ausgabe 2/22, S. 97)
Die Feststellung einer außergewöhnlichen Gehbehinderung („aG“) kommt auch dann in Betracht, wenn das körperliche Gehvermögen selbst nicht beeinträchtigt ist, sondern die Einschränkung der Mobilität aus einer geistigen Behinderung folgt.
So verhielt es sich im Fall der 2001 geborenen, kleinwüchsigen Klägerin mit einem festgestellten Grad der Behinderung von 100. Bedingt durch ihre globale Entwicklungsstörung bei atypischem Autismus verweigert sie mehrmals täglich die Fortbewegung, wirft sich auf den Boden und ist nur unter größter Anstrengung ihrer Begleitperson zum Aufstehen zu bewegen.
Das SG Münster hielt die Voraussetzungen des § 229 Abs. 3 SGB IX aufgrund dieser Sachlage für erfüllt (Urteil vom 17.11.2021 – Az: S 25 SB 314/20). Es stellte allerdings heraus, dass auch nach der Neuregelung der Vorschrift im Zuge des Bundesteilhabegesetzes (vormals: § 146 Abs. 3 SGB IX) grundsätzlich eine restriktive Auslegung geboten sei. So müsse bei Vorliegen einer geistigen Behinderung eine dauerhafte und erhebliche Beeinträchtigung bestehen, die eine Rollstuhlnutzung auch auf kurzen Wegstrecken erforderlich mache.
Bei der Klägerin sei dies angesichts ihres unvorhersehbaren Verhaltens zum Ausschluss von Eigen- oder Fremdgefährdungen im Stadtverkehr der Fall (vgl. auch „Zum Merkzeichen „aG“ bei Autismus“, RdLh 2/2020, S. 100 f.). (Me)
(Rechtsdienst der Lebenshilfe: Ausgabe 2/22, S. 96)
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