Kinder in der Schule
© Lebenshilfe/David Maurer
Schule und Inklusion
Eine Reportage über Kirk aus Berlin #DownSyndrom

Inklusion in der Grundschule

Kirk und seine Familie leben in Berlin. Sechs Jahre lang ging er auf eine private Grundschule. Er war dort das erste und lange einzige Kind mit Down-Syndrom. Das war nicht immer einfach und hat trotzdem funktioniert. Die Lebenshilfe hat Kirk in den vergangenen Jahren immer wieder besucht. Hier bekommen Sie einen Überblick über die ersten Jahre seiner Grundschulzeit. 

Kirk Inklusion Schule
© Hans D. Beyer
Kirk und sein erster Schultag

Kirk rennt ins Wohnzimmer, reißt seiner Mutter einen Anzug mit bunten Karos aus der Hand und zieht ihn an. Dann drückt er eine Perücke mit wilden, roten Locken auf seinen Kopf. Fertig. Heute ist Kirk ein Clown. Er schneidet Grimassen und macht Kunststücke. Kirks Mutter Kathrin lacht. „Er liebt Clowns und ist ein richtiger kleiner Schauspieler“, sagt sie. „Ich wünsche mir, dass es in seiner Schule vielleicht eine Theater-AG gibt. Und Kirk mitmachen darf.“

Ab September wird Kirk auf eine private Grundschule im Osten Berlins gehen – als erstes Kind mit Down-Syndrom. „Ich freu mich auf die Schule“, ruft Kirk. Zurzeit geht er noch in die Vorschulklasse einer integrativen Kita. Er fühlt sich dort wohl und hat einen engen Draht zu seiner Erzieherin. „Er wird da wie ein ganz normales Kind behandelt“, sagt Kathrin. Sie hat Respekt vor dem Schulstart. „Ich habe auch Angst, vielleicht wird Kirk gemobbt oder ausgegrenzt. Ich werde nicht mehr so viel mitbekommen“, sagt sie.

Schule mit Down-Syndrom: Die Einzugsschule lehnte Kirk ab

Deshalb haben seine Eltern sich die Entscheidung nicht leicht gemacht: Auf welche Schule soll Kirk gehen? Am Anfang standen auch Förderschulen auf ihrer Liste. Dann wurde Kirk mehrfach begutachtet, zum Beispiel um seinen Förderschwerpunkt festzulegen. Die anschließenden Empfehlungen waren eindeutig: Kirk soll inklusiv beschult werden. „Unsere Einzugsschule hat uns dann allerdings zuerst abgelehnt“, erzählt Kathrin. Und auch Kirks Einschulungsuntersuchung irritierte die Familie. Beim ersten Versuch fiel er durch – und kommt auch deshalb erst mit sieben Jahren in die erste Klasse. „Vieles hätte er beantworten können, allerdings hat er die Fragen der Ärztin nicht verstanden. Da frage ich mich schon, warum für Kinder mit Förderbedarf in Berlin nicht mit Leichter Sprache gearbeitet wird“, sagt seine Mutter.

Die Familie startete einen Bewerbungsmarathon: Sie hatte Aufnahmegespräche bei Waldorf- und Montessori-Schulen – und der Privatschule in Pankow. „Ich hatte dort gleich ein total gutes Gefühl – die haben da richtig Lust drauf“, sagt Kirks Mutter. „Wir haben uns so gefreut, als die Zusage kam.“ Die Klassen seien dort für Berliner Verhältnisse mit 24 Kindern relativ klein. Die Grundschüler werden von einer Lehrerin und einer Erzieherin betreut, außerdem arbeitet eine Sonderpädagogin an der Schule. Kirk wird außerdem Unterstützung durch einen Schulhelfer bekommen – für wie viele Stunden ist noch nicht klar.

Inklusion: Kirk soll einfach dazugehören

„Ich wünsche mir so, dass Kirk an seiner Schule keinen Sonderstatus hat, sondern einfach dazugehört“, sagt Kathrin. Sie hofft, dass die Schule auf sie zugeht, wenn es Probleme gibt. Und nichts ausgesessen wird, bis es irgendwann nicht mehr geht. Kirks Familie ist schon gespannt auf den ersten Elternabend im Juli. Kathrin würde dann gerne von Kirk erzählen. „Ich wünsche mir, dass die Eltern ihren Kindern sagen, dass alle verschieden sind und genau das normal ist.“

Schulstart bringt Abläufe durcheinander

Kirk kommt in die erste Klasse

Kirk sitzt am Tisch und zeichnet. Neben ihm steht sein Ranzen.
© Hans D. Beyer
Kirk übt für den Schulstart.

Kirks Schulstart wird die Abläufe der Familie erst mal durcheinander werfen, vieles muss neu organisiert werden. Anders als in der Kita, muss Kirk in der Schule pünktlich sein – obwohl er manchmal sehr schwer aus dem Bett kommt. „Ich hoffe, dass ich Kirk direkt dem Schulhelfer übergeben kann – wenn nicht, werde ich ihn zu seinem Platz bringen und warten, bis der Unterricht beginnt. Kirk würde sonst vielleicht wieder rauslaufen“, sagt Kathrin. Und dann ist da ja auch noch Kirks vierjährige Schwester Kacee, die weiterhin in die Kita gebracht werden muss. Kathrin wird deshalb später zur Arbeit kommen und dafür etwas länger im Büro bleiben. Nach der Schule wird Kirk in der Schule Mittagessen bekommen und anschließend in den Hort gehen.

Was sie sich für Kirks Zukunft wünscht? Kathrin überlegt. „Ich weiß es nicht. Ich kann und will auch nicht in die Zukunft gucken. Ich plane nie weiter als ein, zwei Jahre, da wir nicht vorhersehen können, wie Kirk sich entwickelt.“ Kirk hat sein Clowns-Kostüm inzwischen wieder ausgezogen. Er grinst und holt seinen neuen Ranzen aus einer Tüte. Den hat er selber ausgesucht, er hat ein Muster mit Polizeiautos und ein kleines Blaulicht, das blinkt, wenn er auf einen Knopf drückt. Kirk setzt den Ranzen auf und sieht stolz aus. Jetzt ist er kein Schauspieler mehr. Er ist Kirk, das Schulkind.

Kirk geht in die zweite Klasse

Kirk sitzt am Schreibtisch und lacht.
© Hans D. Beyer
Kirk hat schon viel gelernt.

Die Zeit vergeht: Kirk geht inzwischen in die zweite Klasse. Der Anfang war nicht leicht. Aber seine Eltern sind sich trotzdem sicher: Kirk gehört auf eine Schule für alle.

Kirk hält ein Arbeitsblatt mit Bildern in der Hand. Daneben hat er mit einem lila Buntstift in Großbuchstaben geschrieben, was auf den Zeichnungen zu sehen ist: eine Maus, ein Löffel, ein Frosch. Kirk hält das Blatt konzentriert in seinen Händen: „Mmmm. M-A-U-S.“ Stolz guckt er seine Mutter Kathrin an. „Lesen und Schreiben klappt schon echt gut, Zahlen mochte er erst gar nicht. Jetzt ist davon nichts mehr zu merken“, sagt sie.

"Jetzt geht es ihm an der Schule richtig gut – aber das war nicht von Anfang an so“, sagt seine Mutter und meint damit vielleicht auch ein bisschen sich selbst. Denn schon der Tag der Einschulung war ein Einschnitt für die Familie: „Als er ganz alleine nach vorne gehen musste und wir ihn erst zwei Stunden später abholen konnten, habe ich zum ersten Mal so richtig die Kontrolle abgegeben. Das war sehr bewegend“, erinnert sich Kathrin.

Von Anfang an etwas Besonderes

Auch die Sorge, wie die anderen Kinder auf Kirk reagieren werden, ob er dazugehören wird, beschäftigte Kathrin und ihren Mann Karsten sehr. Doch die Schule hatte alle so gut auf Kirks Start vorbereitet, dass eher das Gegenteil passierte: „Er war dort von Anfang an im positiven Sinne etwas Besonderes, alle haben ein bisschen auf ihn Acht gegeben“, sagt seine Mutter.

Kirk wurde von seinem Sitznachbarn sofort zum Geburtstag eingeladen, die großen Mädchen aus der sechsten Klasse fanden ihn niedlich und spielten in der Pause mit ihm. Das Problem: Kirk wurde das manchmal zu viel. Er brauchte Abstand – was er aber noch nicht sprachlich ausdrücken konnte. „Er hat dann getreten, geschubst und gehauen“, sagt Kathrin. „Zum Glück haben die Lehrer das sofort allen erklärt und niemand war böse auf Kirk.“ Auch der Unterricht überforderte ihn, er konnte nicht stillsitzen. Deshalb wurde die Unterrichtszeit für ihn im ersten Jahr auf vier Stunden am Tag reduziert. Danach bekam Kirk eine Eins-zu-eins-Betreuung im Früh-Hort. Inzwischen ist er wieder den ganzen Tag dabei und wird nur noch bei Bedarf aus der Klasse genommen und alleine versorgt.

Der größte Kampf war allerdings der um Unterstützung: Kirk wurden pro Woche nur sieben Schulhelfer-Stunden bewilligt. „Angeblich ist das Standard für Kinder mit Down-Syndrom, für Kirk war das, gerade in der Zeit der Eingewöhnung, viel zu
wenig“, sagt seine Mutter. Die Schule legte Widerspruch ein und versuchte, das Betreuungsdefizit irgendwie auszugleichen. Am Ende nahmen sich Kirks Eltern eine Rechtsanwältin und klagten eine zusätzliche Schulassistenz ein – die auch bewilligt wurde. „Dann war die Woche gut abgedeckt“, sagt Kathrin. „Im neuen Schuljahr hat er zum Glück gleich 20 Schulhelfer-Stunden bekommen.“ Kirk braucht eine Person, die immer auf ihn achtet – sonst funktioniert es nicht.

Kirk muss sich in der Schule an Regeln halten.
© Hans D. Beyer
Kirk muss sich in der Schule an Regeln halten.

Nicht lecken, nicht an den Haaren ziehen, nichts kaputt machen

Im Rückblick war das erste Schuljahr für Kirk ein Ankommen und Austesten. Er machte Lichtschalter an und aus, drückte den Notrufknopf, weigerte sich beim Ausflug ins Theater den vertrauten Klassenraum zu verlassen, schloss sich in der Toilette ein und rannte während des Unterrichts in andere Klassenzimmer. Damit brachte er auch die Lehrer an ihre Grenzen: „Sie mussten erst herausfinden, wie er am besten auf sie hört“, erinnert sich Kathrin.

Seit dem Schulstart gibt es einmal im Monat ein Feedback-Gespräch zwischen Kirks Eltern, seinen Lehrern, den Erziehern und den Schulhelfern. „Wir wissen aber auch nicht immer weiter – Kirk verhält sich zu Hause oft ganz anders“, sagt seine Mutter. Seine Lehrer setzen jetzt auf klare Belohnungssysteme, Wenn-Dann-Erklärungen und Karten mit Piktogrammen. Kirk hält die laminierten Bilder hoch und erklärt: „Da steht nicht lecken, nicht an den Haaren ziehen, nichts kaputt machen.“ Nach und nach fanden seine Lehrer auch die richtigen Lernmaterialien für ihn. Dafür ließen sie sich von der Panke-Schule, die den sonderpädagogischen Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung hat, beraten.

Kirk mit seiner Mutter Kathrin.
© Hans D. Beyer
Kirk mit seiner Mutter Kathrin.

"Wir würden ihn immer wieder auf diese Schule schicken"

Und heute? „Kirk geht jeden Tag gerne zur Schule“, sagt seine Mutter. „Er hat da einfach unheimlich viel gelernt.“ Das merken seine Eltern ganz besonders, wenn er einmal pro Woche zur Musik-AG in die Panke-Schule geht. „Er ist viel weiter als die Gleichaltrigen dort.“ Kirk hat im vergangenen Jahr auch den Sport für sich entdeckt, war bei den Bundesjugendspielen dabei und spielt in den Pausen mit den anderen Kindern Fußball. „Wir würden ihn immer wieder auf diese Schule schicken“, sagt Kathrin.

Was danach kommt, will sie weiterhin nicht planen, sondern abwarten, wie ihr Sohn sich entwickelt. Nächstes Jahr steht erst einmal der Schulstart von Kirks kleiner Schwester Kacee an. „Es wäre schön, wenn sie auf die gleiche Schule gehen kann“, sagt Kathrin. „Aber ich muss vorher mehr mit ihr darüber reden, dass Kirk das Down-Syndrom hat, damit sie mit Fragen auf dem Schulhof umgehen kann.“ Denn bisher reagierte Kacee auf Sätze wie „Kirk lernt langsamer als andere Kinder“ mit Unverständnis. „Sie hat dann gesagt, dass sie für manche Sachen ja auch mal länger braucht“, sagt ihre Mutter und lächelt. Für Kacee ist Kirk einfach ihr großer Bruder. Der schon ziemlich gut lesen kann.

Eine Schule für alle – die aktuelle Situation in Deutschland

Deutschland hat die UN-Behindertenrechtskonvention unterschrieben. Damit haben wir uns verpflichtet, Inklusion auch in der Schule zu etablieren. Da Bildung Ländersache ist, kommt die schulische Inklusion in Deutschland sehr unterschiedlich voran. Eine Orientierung bietet der sogenannte Inklusionsanteil. Er zeigt, wie fortschrittlich die jeweiligen Bundesländer beim Thema Inklusion in der Schule sind und wie viele Kinder mit Förderbedarf bereits in Regelschulen unterrichtet werden. Die Inklusionsanteile liefern jedoch keine hundertprozentig sicheren Aussagen – auch weil von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich interpretiert wird, welche Kinder zu der Gruppe mit sonderpädagogischem Förderbedarf gehören. Laut der Bertelsmann-Stiftung liegt der Inklusionsanteil an deutschen Schulen bei 31,4 Prozent (Stand 2013/2014). Blickt man nur auf den Schwerpunkt Geistige Entwicklung, sind es deutlich weniger: Laut Prof. Dr. Theo Klauß aus dem Bundesvorstand der Lebenshilfe wurden 2014 deutschlandweit nur etwa 11 Prozent dieser Schüler an einer allgemeinen Schule unterrichtet (Fachzeitschrift Teilhabe 4/16).

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